Gummersbach – 100 Theaterbesucher werden am 30.10.2020 in die Mehrzweckhalle der FWS Oberberg hineingelassen, nicht ein einziger mehr. Mundschutz versteht sich von selbst, desinfizierte Hände ebenfalls. Denn: „Diese Krankheit macht die Runde…“ – gruselig? Nun, zumindest denkt man schnell an einen Horrorfilm, als die Kinderstimme aus den Lautsprechern beginnt, den der Song „Microcosmos“ von Bruno Coulais zu singen: „Look at your feet, this funny world, full of insane small creatures…“.
Doch dann füllt sich der Hof vor den Mehrfamilienhäusern, die wunderbare Kulisse lässt eine Stadt erahnen, die mit dem Song „Oh, Happy Day“ zum Leben erwacht. Zwei Nonnen, eine Mutter und ihr Kind, alte Herren, Handwerker, eine Nutte, ein Arzt, eine feine Dame, der Müllmann etc.. Und jeder dieser Bürger hat etwas zu sagen, mag es auch noch so absurd sein: „Besonders das nicht Voraussehbare kann nicht voraus gesehen werden.“ Fröhliches Gelächter im Publikum, doch ein schwarzer Mönch sitzt bereits in der Kulisse. Der Tod? Das Sterben beginnt, keiner bleibt verschont. Und als die Bürger von der unsichtbaren Seuche dahingerafft am Boden liegen, ertönt schon wieder „Oh Happy Day“, klatscht damit dem Schrecken fröhlich ins Gesicht und haucht dem Klassenensemble neues Leben ein. Das Publikum atmet auf, aber nur kurz, denn dann sprechen sie alle im Chor: „Es ist kein Krieg, es geschehen keine Morde. Wir leben normal, ruhig, viele von uns beinahe glücklich. Plötzlich, ohne erkennbare Ursache und ohne krank gewesen zu sein, fangen Leute an, in den Häusern, in den Kirchen, an den Straßenecken, auf den Plätzen zu sterben…“, schließlich schreien sie dem Publikum ins Gesicht „Bleiben sie zuhause!“ – Gänsehaut. Spätestens hier wird klar, dass Eugène Ionescos Stück „Massakerspiel“ von 1970 erschreckend aktuell ist. Und jeder geht anders mit dem Schrecken um, was uns sehr kunstvoll gestaltet demonstriert wird, mit dem orangefarbenen und dem blauen Zimmer, welche sich hinter einer Hauswand verbergen. Der (fast) gleiche Text, die gleiche Situation, doch die beiden Paare gehen komplett verschieden mit dem Grauen und ihrer Angst um. „Die Welt hat uns verlassen“ vs. „Ich werde dich nicht verlassen.“ Und während man noch überlegt, in welchem der Paare man sich selbst wieder findet, wird es plötzlich hektisch. Das Publikum wird in 4 Gruppen geteilt und eilt dann von einer kleinen Bühne zu nächsten. Das ganze Schulhaus wird genutzt, denn „…diese Krankheit macht die Runde um die Erde.“
Los geht’s mit dem fetten alten Mann, der seine Schergen antreibt, immerzu alles zu desinfizieren: „Selbst der Anblick des Übels kann schon ansteckend sein. Nicht aus dem Fenster sehen!“ Das ist grotesk und damit auch sehr witzig, bis der Mann stirbt. In der Krankenhausszene fühlt man sich in der „aseptischen Welt“ so wohl, dass man erst spottet: „Auf der Strasse wird viel gestorben, das ist eine Mode“, sich in allerfeinster Intoleranz übt: „…für mich ist der ein Freund, der denkt wie ich…“, bis auch hier alle sterben. Auf einer Bank im Park erleben wir ein herrliches altes Paar, das die Epidemie-Situation so verschieden empfindet und doch eine unglaublich rührende Einheit bildet, bis in den unvermeidlichen Tod. Und im Gefängnis heißt es für die beiden Gefangenen: „Ihr habt die Wahl – Gefängnis oder Tod?“ Denn der steht vor den geöffneten Gefängnistoren. Aber auch hier kommt keiner lebend davon. Gleiches gilt für die intelligente Ärzteoberschicht, die ihr Glas auf den „Mystizismus“ erhebt und sich dann über das vermeintlich dumme Volk erhebt, das eben nur stirbt, weil es nicht acht gibt, schlecht ist und an den Tod glaubt. Doch auch die Ärzte fallen um. Und dann sind wir zurück im Hof vor den Mehrfamilienhäusern. Die Bürger werden ungehalten, ermorden sich gegenseitig, plündern mit ungebremster Wonne und essen sich schließlich gegenseitig auf, bis am Ende alles in Flammen steht. Der schwarze Mönch, der immer wieder aufgetaucht war, wenn gestorben wurde, zeigt sein Gesicht.
Was bleibt ist ein dicker Kloß im Hals. Ja, „diese Krankheit macht die Runde“ – nicht nur auf der Bühne, sondern unter uns. Gruselig? Nun, dieses großartigen Klassenensembles unter der Leitung von Marcus Lachmann hat uns gezeigt, welch absurdes Ausmaß alles annehmen kann, wenn wir vergessen, was wir sind: Menschen. Wir sind zäh, wir sind klug, wir haben schon einige Pandemien überstanden, wir haben ein Herz, wir können – nein – wir müssen miteinander reden, uns gegenseitig zuhören, besonders wenn wir verschiedener Meinung sind, um uns gemeinsam gegen das Übel zu stellen, um gemeinsam gegen den Schrecken anzulachen. Oder probieren wir mal aus, was die Kinderstimmen im Soundtrack des Stücks, im Song von Coulais, uns raten: „Sit on the grass, oberserve and paint the toad, the wasp, the dragonfly…“. Danke für dieses grandiose Klassenspiel!
Text: Mandy Cankaya
Quelle: Öffentlichkeitskreis FWS Oberberg e.V.