Marienheide – „Schau in die Gesichter deiner Schüler, dann siehst du, ob du guten Unterricht machst.“: Dies war wohl der wichtigste Satz, den der Schweizer Pädagoge Andreas Müller den ca. 400 versammelten Lehrerinnen und Lehrern der oberbergischen Gesamtschulen am Oberbergischen Gesamtschultag mit auf den Weg gab. Zum 7. Mal fand der inzwischen traditionelle oberbergische Gesamtschultag statt. Teilnehmende Schulen waren die Gesamtschule Marienheide als Gastgeberin sowie die Gesamtschulen Reichshof-Eckenhagen, Gummersbach-Derschlag und Waldbröl. Das Oberthema war dieses Jahr der Umgang mit der „Heterogenität“ der Lerngruppen.
Zunächst begrüßte der Marienheider Schulleiter Wolfgang Krug die Anwesenden, anschließend sprach die Dezernentin Maria Dorn als Vertreterin der Bezirksregierung ein Grußwort, bevor die vier didaktischen Leiter/innen einen kurzen Überblick über den Verlauf der Veranstaltung gaben. Für das sich anschließende Einführungsreferat konnte Andreas Müller aus der Schweiz gewonnen werden. Seit vielen Jahren setzt der Reformpädagoge aus Bern erfolgreich auf selbstorganisiertes Lernen, individuelle Förderung, gezielte Arbeitsplanung und aktive Freizeitgestaltung im Schulbereich. Die Basis seiner Bildungsarbeit bilden Erkenntnisse der Wissenschaft in Kombination mit moderner Schulpraxis. Müller hat maßgeblich die Theorie des Lernens mit beeinflusst und ist heute Direktor des Instituts Beatenberg, einer innovativen Modellschule, an der eigenständiges Lernen im Vordergrund steht.
Quelle: GE Marienheide„Fächer, Klassenverband, Stundenplan, Prüfungen – die grundlegende Organisation von Schule stammt aus dem 19. Jahrhundert“, so Müller, „und hat sich seitdem nicht großartig verändert“. Der Rest der Welt allerdings schon: Die Schüler hätten unterschiedlichere Biografien, vielfältigere familiäre Hintergründe und würden verschiedene Sprachen sprechen. Auch würden sie viel mehr Zeit vor Bildschirmen verbringen. Auf 365 Tage gerechnet, wies Müller nach, sitze ein Kind durchschnittlich drei Stunden pro Tag in der Schule, aber vier bis fünf Stunden vor dem Fernseher oder Computer. Müller wertete das nicht, zieht aber Konsequenzen für die Organisation seiner Schule und fordert Konsequenzen für den Unterricht.
Was aus Sicht des Pädagogen immer wichtiger werde, um in dieser Welt bestehen zu können, sei nicht Fachwissen, sondern seien persönliche Kompetenzen. Müller plädierte für weniger Stoff und dafür mehr Vertiefung und Qualität: „Denn was nütze es Schülern, wenn sie auswendig lernen, dass Dinosaurier 25 Meter groß und 50 Tonnen schwer werden konnten, wenn sie keine Vorstellung davon haben, was die Größe oder das Gewicht konkret bedeuten?“
„Lernkompetenz“ heißt das bei Müller. „Lernen ist, aus etwas Fremdem etwas Eigenes zu machen“, sagte er. Auch die „Selbstkompetenz“ sei wichtig: Achtsamkeit, Empathie, Respekt, sich selbst und anderen gegenüber. In seiner Schule in Beatenberg sieht das dann so aus: Die Kinder und Jugendlichen werden nicht nach Alter aufgeteilt, sondern sitzen in „Lern-Teams“ zusammen, die Stärkeren sollen den Schwächeren helfen – und dabei selbst etwas lernen. Jeder Schüler hat seinen eigenen Arbeitsplatz, an dem er selbstständig und in seinem Tempo lernen kann. Ein Kompetenzraster für jedes Fach bildet ab, „was man können könnte“, vor jedem Schuljahr gibt es für jeden Schüler eine Standortbestimmung. Die Lernziele werden mit dem „Coach“, der nicht mehr Lehrer heißt, abgesprochen. Aus der Differenz ergibt sich der Handlungsbedarf. Verschiedene Lernnachweise zeigen die Entwicklung im Laufe des Jahres. Noten gibt es keine.
Vor allem für die Lehrer ist diese neue Form der Schule eine Umstellung. In Beatenberg gibt es kein Lehrerzimmer, die Pädagogen haben ihren Arbeitsplatz im Lernteam. Auch die Arbeitszeiten ändern sich radikal. „Ich komme am Morgen und gehe am Abend“, berichtete Müller. Dann sei die Arbeit aber auch erledigt, es entfalle das Gefühl des „Nie-fertig-Werdens“, das viele Lehrer kennen, wenn zu Hause noch Korrekturen oder Unterrichtsvorbereitung anstehen. Und sie geben Kontrolle ab: „Wenn drei Schüler etwas besprechen wollen, gehen sie raus. Das war mir am Anfang nicht so recht“, gab Müller zu. Doch es habe mit Vertrauen zu tun, so etwas zuzulassen. Außerdem erlangten die Schüler dadurch Autonomie, könnten selbstbestimmt handeln – ein wichtiger Baustein für eine gute Selbstwahrnehmung.
Im Anschluss konnten die Lehrer über das Gehörte diskutieren oder sich an zahlreichen „Best-practice“-Infoständen, an denen Lehrer ihren Kollegen vorstellten, wie an den jeweils anderen Schulen erfolgreich mit bestimmten Themen umgegangen wird, informieren. Nach einem leckeren Mittagessen, für das ebenso wie für Kaffee und Brötchen im Verlauf des gesamten Tages der Förderverein der Gesamtschule Marienheide mit seinem Mensabetrieb -unterstützt von einigen Kolleginnen und Schülern der Oberstufe- sorgte, gab es am Nachmittag die Gelegenheit, sich in 24 Workshops über aktuelle Fragen im Schulentwicklungsprozess auszutauschen. Themen waren u.a. „Schüler-Eltern-Feedback“, „Umgang mit auffälligen Schülern“ oder der „Einsatz von Kompetenzrastern im Mathematikunterricht“.
Was Heterogenität und Inklusion in der Praxis bedeutet, schilderte abschließend im Plenum Rainer Schmidt, Pfarrer, Kabarettist und Paralympics-Sieger eindrücklich und zugleich sehr unterhaltsam, indem er Erlebnisse aus seiner Kindheit lebendig werden ließ. „‘Der Junge hat keine Arme!‘, als meine Oma das meinem Vater mitteilte, da haben beide -aschfahl im Gesicht- erst einmal dagesessen und sich überlegt, was ich alles nicht können werde“. Dann allerdings sei er in seinem Dorf ganz inklusiv aufgewachsen, weil alle ihn von Anfang an so kannten, und er immer dazu gehörte. So habe er trotz einer Beinprothese mit den Kindern gemeinsam Fußball gespielt und vieles mehr. Dass er „anders“ war, habe er erst mit der Einschulung bewusst wahrgenommen. Er musste damals auf eine „Sonderschule“, während seine Spielkameraden auf eine „normale“ Schule gingen.
Schmidt nennt Inklusion eine Herzensangelegenheit, die etwas zu tun hat mit Emotionen, nicht nur mit Menschenrechten. Schmidt fragte in die große Runde seiner Zuhörer: „Wie begrüßt man zum Beispiel jemanden, der keine Arme hat? Ich muss es Ihnen zeigen, dann ist es für uns beide kein Problem mehr.“ Menschen mit Behinderungen würden oft reduziert: „Ich habe kurze Arme, aber auch schöne blaue Augen“, machte er mit einem Augenzwinkern deutlich, was er damit meint. Er plädierte dafür, mit Einschränkungen unbefangener und normaler umzugehen. Alle Schüler hätten nun einmal Förderbedarf, die einem mehr, die anderen weniger, die einen hier, die anderen dort. Mit seinem einstündigen Vortrag schloss Rainer Schmidt so die insgesamt sehr gelungene Veranstaltung mit dem Appell ab, dass er hoffe, mit seinem Beitrag alle Anwesende bestärkt habe, aktiv an einer erfolgreichen Inklusion in allen Schulen mitzuarbeiten.