Wiedenest – Die 1998 gegründete Initiative „Den Kindern von Tschernobyl“ hat es wieder geschafft: Auch in diesem Jahr sind genügend Spenden für den rund 14.000 Euro teuren Aufenthalt zusammengekommen. „Erst heute Morgen hatte ich wieder einen Spendenumschlag im Briefkasten“, freut sich Gudrun Irle, eine der Mitbegründerinnen der Initiative, über die anhaltende Unterstützung.
Heute Nachmittag steht ein Besuch der Eisdiele in Olpe auf dem Programm. Im Tagesraum des Familien-Ferienzentrums der Naturfreunde, wo die Gruppe untergebracht ist und wo Schwimmbad und großzügige Außenanlagen ideale Bedingungen bieten, warten alle darauf, dass es losgeht. Bis die ehrenamtlichen Fahrerinnen und Fahrer aus der Kirchengemeinde Wiedenest im Käte-Strobel-Haus eintreffen, vertreiben sich etliche die Zeit mit Kartenspielen. Christina wird von ihrer Mutter Albina noch schön gemacht: Liebevoll flicht sie ihr eine rosa Schleife ins lange Haar. Nach der Chemotherapie wegen Christinas Leukämieerkrankung war es komplett ausgefallen. „Sie hatte noch nicht mal mehr Augenbrauen“, übersetzt Iryna Danenkova. Die Dolmetscherin sorgt bereits zum 11. Mal dafür, dass die Verständigung zwischen dem Team der Ehrenamtlichen um Gudrun Irle und den Gästen aus Belarus klappt. „Hier ist alles wunderbar und alle sind so herzlich zu uns“, sagt Alinas „Babuschka“, die mitgekommen ist, weil die Mutter der Kleinen auch erkrankt ist.
Ausnahmslos alle Kinder, die jetzt drei Wochen lang ein abwechslungsreiches Programm mit Zirkusbesuch, Reiterhof und Streichelzoo, erlebnisreichen Ausflügen und den nötigen Ruhepausen genießen, wurden von der Chefärztin der Kinderhämatologie am Gebietskrankenhaus Gomel für den Erholungsaufenthalt in Wiedenest vorgeschlagen. Die Auswahl ist nicht leicht. Denn die Station ist stets mit 35 krebskranken Kindern ausgebucht.
Den meisten Kindern, die nach Wiedenest gekommen sind, sieht man ihre schwere Erkrankung nicht an. Die 15 jährige Julia etwa erkrankte mit fünf Jahren an einer schweren Blutgerinnungsstörung, die ihr seither den Besuch einer normalen Schule unmöglich macht. Seit zehn Jahren prägen lange Krankenhausaufenthalte ihr Leben. Ob sie je ein normales Leben führen kann, ist ungewiss.
Tanja war nach ihrer Krebserkrankung mit knapp 5 Jahren bereits einmal in Wiedenest – und lebt mit der Angst vor einem erneuten Rückfall. Auch während des Erholungsaufenthaltes müssen alle Kinder mit ihren Kräften haushalten. In den zurückliegenden heißen Tagen hieß es für sie: Vorsicht Sonne, denn die ist nach einer Chemotherapie besonders gefährlich.
Auch im 27. Jahr nach dem Tschernobyl-Reaktorunfall vom 26. April 1986 erkranken immer noch Menschen in der Region um Tschernobyl an den Spätfolgen der atomaren Katastrophe. „Das wird in der Region Gomel noch 150 Jahre so bleiben“, schätzt der belarussische Arzt Michael Bogatschenko, der die Kinder während ihres Aufenthaltes medizinisch betreut. Er steht den Aussagen der weißrussischen Regierung wohl skeptisch gegenüber, die stets betont, alles sei wieder normal.
Gomel ist die zweitgrößte Stadt Weißrusslands und liegt etwa 120 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Hier gingen nach dem Reaktorunfall vor 27Jahren etwa 70 Prozent der radioaktiven Niederschläge Weißrussland nieder. Anders als die Bewohner von über 400 benachbarten Dörfern wurden die rund 500.000 Einwohner Gomels nicht umgesiedelt. Sie mussten in der verstrahlten Region bleiben.
„Fast in jeder Familie gibt es Krebskranke“, berichtet Dolmetscherin Iryna Danenkova. Auch ihre eigene Familie ist betroffen. Vor kurzem ist ihr Bruder, Vater von drei Kindern, mit 36 Jahren an Krebs gestorben. Ob es in ihrer Heimat eine Anti-Atombewegung gibt? „Uns fragt ja niemand – stattdessen werden neue Atomkraftwerke gebaut“, antwortet sie diplomatisch. Kritik ist in Belarus nicht ungefährlich. Weißrussische kritische Wissenschaftler wie Prof. Juri Bandaschewski, die versucht hatten, ein Krebsregister aufzubauen oder eigene Mess-Ergebnisse zu veröffentlichen, mussten ins Ausland gehen oder verschwanden in Arbeitslagern.
Draußen hupt es: Die Autos sind da. „Mir macht es einfach Freude, helfen zu können. Ich bin dankbar für meine eigene Gesundheit“, erklärt Fahrerin Rosa Anders, die zu dem runden Dutzend Ehrenamtlicher aus der Kirchengmeinde gehört, das unentgeltlich für den Transport der Gruppe sorgt. Für Gudrun Irle und ihre Mitstreiterinnen steht schon vor dem großen Abschiedsfest am Freitagabend fest: Nächstes Jahr soll es wieder eine Einladung für Kinder aus Gomel geben. Sie hoffen, dass die Kinder noch lange von den Erlebnissen zehren und dass sie gestärkt sind für das, was noch auf sie zukommt.
MITARBEITENDE GESUCHT
Für die Durchführung des “Sommeraufenthaltes” sucht die Initiative weitere Helferinnen und Helfer. Besonders willkommen sind Menschen, die der russischen Sprache mächtig sind.
Infos zur Wiednester Initiative und zum Spendenkonto: www.kirche-wiedenest.de
Informationen zur landesweiten Bundesarbeitsgemeinschaft „den Kindern von Tschernobyl:
http://www.bag-tschernobyl.net/